Ausgabe 23 / August 2024

Blickpunkt

Ich bin so frei

Ausgabe 23 – August | September | Oktober | November 2024

„DARF ICH GANZ OFFEN REDEN?“


Diese Frage bildet nicht selten den Einstieg in ein TelefonSeelsorge-Gespräch. Und oftmals ist meine Antwort darauf: „Natürlich.“ „Gerne.“ Mit anderen Worten: „Seien Sie so frei und sprechen Sie.“

Aber wie viele Freiheiten dürfen Anrufende sich eigentlich nehmen? Wie viel Freiheit lasse ich als Seelsorgerin zu?

Jeder, der die TelefonSeelsorge-Nummer anwählt, hat ein berechtigtes Anliegen, möchte von einer Krise, einer Notlage, einem Problem, einer Belastung erzählen. Und es ist aus meiner Sicht gut und wichtig, dass wir den Anrufenden die Freiheit zugestehen, dass sie sich uns mit allem, was sie bedrängt, anvertrauen können. Ratsuchende werden ja häufig all das bei uns los, was sie sich nicht trauen, anderen Menschen gegenüber aus- und anzusprechen. Denn bei der TelefonSeelsorge muss niemand fürchten, bewertet, kritisiert, bloßgestellt oder ausgelacht zu werden. Und die meisten AnruferInnen sind froh und dankbar, dass sie mit uns ins Gespräch kommen und frei reden dürfen.

Aber nun doch noch einmal zurück zur Eingangsfrage. Wie viel Freiheit kann und will ich zulassen? Wie offen dürfen Menschen ihre Gedanken, Vorstellungen, Gefühle mir gegenüber zum Ausdruck bringen? Meine Antwort: Freiheit darf nicht zu Grenzüberschreitung führen, Freiheit bedeutet nicht Hemmungslosigkeit.

Mein Anspruch ist es, den Anrufenden Zeit und  Raum zu geben, damit sie erzählen, etwas loslassen, Gefühle 
äußern oder auch Geheimnisse preisgeben. Aber gleichzeitig verfüge ich dabei über einen Entscheidungsspielraum, innerhalb dessen ich ein Gespräch unterbrechen, begrenzen oder beenden kann, wenn es mir nötig erscheint. Und ich nehme mir diese Freiheit immer dann, wenn der Anrufende übergriffig wird, mich instrumentalisieren möchte, mich als „Abfalleimer“ benutzt, Respekt vermissen lässt oder es einfach nicht schafft, seine Redezeit angemessen zu begrenzen.

Unsere Tätigkeit bei der TelefonSeelsorge ist wichtig für all jene, die sich mit ihren Anliegen an uns wenden, die Trost, Beistand, ein offenes Ohr und Verständnis brauchen. Aber TelefonSeelsorge ist keine Einbahnstraße. Es ist ein Missverständnis, wenn Anrufer glauben: „Da kann ich, wann immer ich möchte, so lange reden, wie ich will. Da kann ich alles, auch die intimsten Details, erzählen. Da kann ich die Ehrenamtlichen beschimpfen und beleidigen. Da kann ich Obszönitäten los werden. All das darf ich tun, denn die MitarbeiterInnen der TelefonSeelsorge müssen mir zuhören. Sie sind für mich da. Immer.“

Genau an der Stelle sehe ich mich gezwungen, Freiheit zu begrenzen, denn ich muss mich selber schützen und möchte mich nicht vereinnahmen lassen.

Und so habe ich als Ehrenamtliche bei der TelefonSeelsorge durchaus das Recht zu sagen: „Ich bin so frei – und beende nun das Gespräch mit Ihnen.“

Margret Martin

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