Ausgabe 88 / April 2015

Blickpunkt: Intuition

Intuition verträgt keine Eingrenzung und auch keine Vor-Bestimmung.

IntuitionWas wirklich zählt, ist Intuition

Von Cordula Gestrich

Der Ausspruch stammt von Albert Einstein. Für ihn war Phantasie wichtiger als Wissen, da Wissen begrenzt sei. Und ein Goethe zugesprochenes Zitat – „Das Höchste, was ein Mensch erlangen kann, ist das Erstaunen“ – soll uns bei unserer Frage nach dem Wesen von Intuition unterstützen.

Intuition verträgt keine Eingrenzung und auch keine Vor- Bestimmung. Willentlich unter Planung oder gar Kontrolle wird sie nicht erfahrbar. Kontraproduktiv wirkt Angst. Dann gerät das offene Gewahrsein in eine Zwangsjacke des Fokussierens auf etwas hin, was geschehen könnte. Kam Einstein die Erkenntnis der Relativitätstheorie nicht im Schlaf? Da, als die „ratio“ auf der bewussten Ebene ruhte, dennoch ein Teil der geistigen Fähigkeiten phantasierend experimentierte, mit Möglichkeiten spielte? Geistes-gegenwärtig kam ihm der Geistes-Blitz, die Erleuchtung. Einstein selbst sagte über die Intuition, für ihn gehöre sie zu den schönsten Erfahrungen als einer Teilhabe an Mysteriösem.

Nun sind wir in der TelefonSeelsorge weder Dichter noch Forscher, wollen einfach zugewandt, aufmerksam, empathisch Zuhörer sein. Unser Handwerkszeug ist Wahrnehmung. Das schließt alle unsere Sinne ein, die nach außen wie die nach innen. Es geht um die Präsenz im Augenblick, um den Kontakt zum Ich, zum Du und zum gemeinsamen Prozess. Damit sind objektiv wahrgenommene Zeichen wie Zeit des Anrufs, Wörter, Geschlecht, Alter, Inhalt, Stimme und Sprechweise zu verstehen. Darüber hinaus hören wir: Pausen, Stimmung hinter der Stimme, die Energie in der Stimme, nicht Gesagtes, Missverständliches, Seufzer. Das alles nehmen wir über unser Ohr bewusst auf. Lassen wir uns nicht gleich auf eine Deutung unseres bewussten Denkens ein! Das suggeriert uns gern und schnell mit klaren Strukturen Sicherheit und Wissen.

Die Neurobiologie hat herausgefunden, dass unser Gehirn im Bruchteil von Sekunden alle sensorischen Inputs auf mögliche Gefahren für unseren Organismus hin überprüft. Bevor wir denken, verschalten sich schon diverse neuronale Netzwerke, sammeln Daten des Gedächtnisses aus verschiedenen Speichern, in denen Erinnerungen, biografische Ereignisse, Wissen „abgelegt“ sind, ebenso alle dazugehörigen emotionalen Komponenten. Diese sind im Hippocampus mit Amygdala und einem Teil des Limbischen Systems repräsentiert. Die Inhalte vieler dieser Daten sind uns gar nicht mehr bewusst. Auch die emotionalen Erfahrungsqualitäten lagern dort. Die werden allerdings im Nu präsent, wenn die Amygdala signalisiert „angenehm – unangenehm – neutral“ oder, wenn traumatische Erfahrungen getriggert werden, „Achtung: Lebensgefahr!“.

Wie können Erkenntnisse der Hirnforschung zum Verständnis von „Intuition“ beitragen? Es scheint so, dass im Kurzzeitgedächtnis alles Alltägliche gespeichert wird. Der Inhalt dieses Speichers verschiebt sich in den Langzeitspeicher, den Hippocampus, und wird dort allmählich komprimiert, unserem bewussten Zugriff durch Denken und Planen unzugänglich. Wir können lernen, die stetigen Signale der Amygdala als eine neutrale Information zum jetzigen Moment des Kontakts wahrzunehmen. Vertrauen wir uns dem Fluss dieser Signale an, werden wir eine große Ruhe verspüren. Je tiefer wir uns in diese Ruhe einlassen, desto weiter wird Raum für Resonanz erfahrbar – sowohl für unsere eigenen inneren und äußeren Prozesse wie für alles im Außen. Ähnlich wie in der Meditation können wir des Paradoxons von dichtester Konzentration bei gleichzeitiger Auflösung ins Unermessliche gewahr werden.

In der TS ist es uns nicht fremd, Resonanzraum zu sein und anzubieten im Kontakt mit Anrufenden. Möchten wir uns darüber hinaus für Intuition öffnen, brauchen wir volle Aufmerksamkeit für unsere geistige Wachheit und emotionale Intelligenz. Wir können intuitive Erfahrungen nicht „machen“. Wir können uns jedoch üben in Achtsamkeit für alles, was in uns auftaucht. Unterstützend mag es auf dem Weg zur Erfahrung von Intuition sein, Atmosphärisches wach und offen wahrzunehmen und sich der eigenen Haltung dazu immer mehr bewusst zu werden. Dabei „zoomen“ wir mit allen Sinnen in wertschätzender Neugier und voller Interesse. So verfeinern wir unsere Wahrnehmung – achtsamer von Moment zu Moment. Achtsamkeit für sich und andere kann im Laufe regelmäßiger übung ermöglichen, jenseits des Bewussten in Kontakt zum Unbewussten zu kommen. Darüber hinaus können uns Bilder und Mythen aus dem Archetypischen begegnen. Im Archetypischen, so C. G. Jung, liegt der Fundus des Kollektiven Unbewussten. Hier verweben sich Erfahrungen, Wissen und Mythen der Menschheit. Noch heute nutzen indigene Völker den Schatz der Mythen in Zusammenschau auf Prozesse der Natur und alles Natürlich-Kreatürliche. Sie machen damit heilende, heilsame Erfahrungen auch im Raum von Intuition.

Zurück zur TS: Ein Geistesblitz erhellt uns mit einer Frage an den Anrufenden, wir wissen etwas, wovon wir nicht wussten, dass wir es wussten. Ganz „unüberlegt“ fragen wir „etwas“, machen eine Anmerkung, das Gespräch führt in eine klärende Richtung. Hatten wir eine Intuition? So betrachtet sind wir in der TS vielleicht Wort-Künstler, indem wir Atmosphärisches ver-dichten, in Begriffe fassen, so dass unser Gegenüber etwas von sich klarer begreifen kann. Intuitives Erfassen bezieht sich immer sowohl auf einen selbst wie auf etwas außerhalb. Wissen wir nun, was Intuition ist? Nein, wir können nur ihr Erscheinen und ihre Auswirkungen beschreiben. Was wir wissen, ist, dass unser Gehirn bei achtsamem Gewahrsein wie bei Meditation zu arbeiten scheint. Und wir beobachten, dass wir da, wo wir unser Gewahrsein ernsthaft öffnen, den Horizont über den Horizont hinaus weiten, Nicht-Gedachtes für möglich halten, spielerisch und voller Präsenz. Da mag uns das Geschenk einer intuitiven Erfahrung zuteil geworden sein.

Mögen Sie, liebe Leser und Leserinnen, sich in Ruhe und Achtsamkeit absichtslos, jedoch nicht in Passivität, für intuitive Erfahrungen offen halten!